Vorsicht Genozid!

 

Der englische Verhaltensforscher Desmond Morris schreibt in seinem Buch „Der Mensch mit dem wir leben“ auf Seite 309:

 

Eine degenerierte Form des Sports, die besondere Erwähnung verdient, ist das Kriegführen. In frühester Zeit, als die Waffen noch neu waren, war eine blutige Sportart so gut wie die andere. Als die Jagd auf wirkliche Nahrungsobjekte nicht mehr im Mittelpunkt stand, hatte man eine reiche Auswahl an Ersatzobjekten. Jedes Jagdopfer war recht, wenn es nur die nötige Erregung, den gewissen Kitzel mit sich brachte, und warum sollte man die menschliche Beute ausschließen? Die frühen Kriege waren keine totalen Kriege, sie waren streng regulierte und auf ein Schlachtfeld begrenzte Angelegenheiten, etwa wie eine sportliche Auseinandersetzung heute. Die Krieger verwendeten dieselben Waffen, die ihnen auch zur Jagd dienten, und im besonderen Fall des Kannibalenkrieges erstreckt sich die Ähnlichkeit sogar noch bis zum Aufessen der Beute

 

Tragischerweise ist der kriegerische Typus des Sportverhaltens bald außer Kontrolle geraten und zu blutigen Massakern eskaliert. Dafür gibt es zwei Gründe. Einerseits führte die Waffentechnik an einen Punkt, wo das Führen einer Waffe keine persönliche Tapferkeit und keine körperliche Kampfgeübtheit mehr erforderte. Aus dem Jäger-Krieger wurde ein Abschlachtungs-Technologe. Andererseits wuchs die Zahl der Menschen immer stärker, bis eine Überbevölkerungskrise entstand. Es kam zu immensem sozialen Druck und zu horrenden Konkurrenzanforderungen. Der alte Sport des Jagd-Kriegs gebar den Wahnwitz des modernen Vernichtungskriegs.“

 

Die von Morris geschilderte globale Situation traf zu Beginn der „modernen“ Menschheit durchaus auf deren Existenzbedingung zu. Morris weist zwar auf die moderne Waffentechnik hin, aber diese wäre ohne das dahinterstehende Bedürfnis, mit möglichst wenig Aufwand so viele Menschen wie möglich umzubringen, nicht denkbar.

 

Des weiteren, das ist Morris wohl entgangen, gab es schon „Vernichtungsfeldzüge“, als noch mit jagdtauglichen Waffen gekämpft wurde und Mann gegen Mann stand. Der berühmteste von allen dürfte der Feldzug gegen Troja gewesen sein. Weniger bekannt ist bereits der Zweite Punische Krieg, der zur Zerstörung Carthagos führte und Rom zur europäischen Supermacht werden ließ.

 

Auch Gaius Julius, genannt Caesar, ließ sich diesbezüglich nicht lumpen. Anläßlich seiner Gallienfeldzüge ließ er mehr als einmal ganze Landstriche entvölkern. Bei seinen eigenen Landsleuten machte er sich allerdings erst durch sein perfides Vorgehen gegen die Usipeter und Tenkterer unbeliebt, die im Frühjahr des Jahres 55 v. Chr. in der Nähe von Nimwegen lagerten.

 

„Die ahnungs- und führerlosen Germanen, die im Lager ruhig ihren täglichen Beschäftigungen nachgingen und an nichts Böses dachten, wurden vom römischen Heer plötzlich überfallen und abgeschlachtet. Caesar beschreibt dieses »Heldenstück« geradezu mit einem gewissen Genuß. Die römische »Humanitas« und Caesars »Clementia« (Milde) werden besonders durch folgenden Satz ins rechte Licht gerückt: »Die übrige Masse der Frauen und Kinder – die Germanen waren nämlich mit allem Volk ausgezogen und über den Rhein gegangen – begann allerorts zu fliehen. Zu ihrer Verfolgung sandte Caesar die Reiterei aus.« Es ist besonders bezeichnend, daß Caesar nicht wagte, die Reiterei gegen waffenfähige Männer, wohl aber gegen wehrlose Frauen und Kinder einzusetzen. Wieder schließt Caesar seinen Bericht mit der ausführlichen Schilderung der Niedermetzelung der feige überfallenen Germanen. (Alfred Franke, Rom und die Germanen, Herrsching 1986, S. 191)

 

Caesars Vorgehen in dieser Sache ging damals selbst den römischen Senatoren zu weit. Cato der Ältere hatte rund 150 Jahre vor Caesar noch die Meinung vertreten, Carthago müsse zerstört werden, Cato der Jüngere hingegen beantragte im Senat wegen des geschilderten Vorfalls die Auslieferung Caesars an die Germanen.

 

Wie es damals am linken Niederrhein wahrscheinlich ausgesehen hat, zeigt ein Fund, in Somerset (Südwestengland), nämlich die Keltenstadt „Cadbury-Camelot“. Bei der Ausgrabung des Südwesttores wurden die Überreste von Kindern entdeckt. Diese waren auf jede nur erdenkliche Weise zerstückelt worden und die Leichenteile waren über den ganzen Torweg verstreut. Der Anblick muß dermaßen grauenvoll gewesen sein, daß einige der freiwilligen Helfer sich weigerten, hier weiterzuarbeiten. (Franke S. 60) – Täter waren auch hier römische Legionäre. Keine wilden Barbaren, sondern Soldaten der größten „Kulturnation der Antike. Und ich setze als bekannt voraus, daß sich römische Soldaten sich ein Ding mit Sicherheit nicht leisten durften: Disziplinlosigkeit.

 

Kavallerie gegen Frauen und Kinder. – Wie oft mag sich dieses Muster seit Caesar überall auf der Welt wiederholt haben. Die bekannteste Wiederholung dürfte das Massaker vom Sand Creek sein, als US – Kavalleristen ein Indianerdorf niedermetzelten.

 

Bis weit in die Neuzeit hinein wurden derartige Untaten mit Waffen begangen, die durchaus aus Feuerstein, Holz und Knochen hätten hergestellt werden können. Der Argumentation Morris’, der die Unmenschlichkeit an die moderne Waffenentwicklung anknüpfen möchte, kann einerseits aus diesem Grunde nicht gefolgt werden, andererseits aus dem Grund, daß der älteste Beleg für einen „Vernichtungsfeldzug“ gut und gerne 7000 Jahre alt ist. Der bislang älteste Knochenfund, der auf einen Genozid hinweist, wurde in Talkirchen (Baden-Württemberg) gemacht. Er wurde überwiegend mit Steinäxten verübt und kostete 34 Menschen im Alter von 2 – 60 Jahren das Leben. Bedenkt man, daß auch in der Jungsteinzeit die Horde oder das Dorf mit 25 –50 Individuen ein „Volk“ bildeteten, dann ist das Ereignis von Talkirchen der älteste nachweisbare Völkermord der Weltgeschichte. – Er ist der älteste nachweisbare, aber mit Sicherheit nicht der älteste an sich. – Vielmehr ist ein nachgewiesener steinzeitlicher Völkermord Indiz dafür, daß der Genozid, das rücksichtslose Töten von Artgenossen, zu den Eigenschaften des “modernen“ Menschen zählt. Genozidale Tendenzen zeigen sich in der ganzen Welt, bei allen Völkerschaften, wie der Genozid der Hutus an den Tutsis im Jahre 1994 mehr als deutlich macht. Auch hier kamen keine „modernen“ Waffen mit „Fernwirkung“ zum Einsatz, erst recht keine „Massenvernichtungsmittel“. Man benutzte wie vor 7.000 Jahren in Talkirchen das Werkzeug oder die Waffe, die man „gerade zur Hand“ hatte, dazu, Artgenossen abzuschlachten.

 

Kaum jemand weiß, daß Genozid im alttestamentarischen Alltag wohl so verbreitet war, daß sich kein Mensch darüber aufregte. So wird denn mit fast juristischer Distanz festgestellt:

 

Da besetzte Gilead vor Ephraim die Jordanfurten, und wenn ephraimistische Flüchtlinge sagten: „Laßt mich hinüber“, fragten die Leute von Gilead: „Bist Du ein Ephraimit?“ Antwortete er: „Nein“, dann sagten sie zu ihm: „Sag mal Schibboleth!“ Da sagte er „Sibboleth“, denn er konnte es nicht richtig aussprechen. Dann packten sie ihn und erschlugen ihn an den Jordanfurten. Auf diese Weise kamen zweiundvierzigtausend Mann aus Ephraim um – Wer wollte daran zweifeln, stammt diese Darstellung doch aus dem Buch der Bücher, genauer gesagt aus dem Buch der Richter, Kapitel 12, Vers 5 bis 6.)

 

Das erschreckende an diesem Ereignis ist nicht nur die „Individualität“ der Opfer und ihre „Kennzeichnung“, vor allem ist erschreckend, daß man an den Jordanfurten so etwas wie eine „Selektionsrampe“ errichtet hatte.

 

Kaiser Titus ließ die Vertreibung der Juden aus ihrem eigenen Land auf dem Forum Romanum verewigen. Kaiser Trajan ließ das Forum mit einer Art „Holocaust-Denkmal“ schmücken. Die Trajanssäule ist freilich nicht dem Gedenken an die rund 1.000.000 Dakern gewidmet, sie verherrlicht vielmehr die „Täter“.

 

Gut 1.000 Jahre nach Caesars Legionen überzogen die Wikinger Europa mit Plünderung, Mord und Schrecken. Ihre Waffen waren ebenfalls überwiegend solche, bei deren Anwendung man dem Gegner oder Opfer in die Augen sehen mußte. Das änderte sich auch im Dreißigjährigen Krieg nicht, denn die darin verübten Greueltaten gegenüber der Zivilbevölkerung wurden auch überwiegend mit Nahwaffen ausgeführt.

 

Die Bilder aus den Konzentrationslagern, die Bilder aus dem Kosovo, aus Srebrenica und auch die Bilder aus Israel und Tschetschenien sprechen keine andere Sprache: Der moderne Mensch hat bezüglich seiner Reaktion gegenüber dem Sozialpartner die Instinktbindung verloren und ist nicht mehr in der Lage, auf soziale Not- oder Unterwerfungssignale instinktsicher zu reagieren.

 

Der „moderne“ Mensch ist damit in eine Lage geraten, über die man erschaudern könnte, er zeigt eine ausgesprochene Neigung zum Genozid, zum Völkermord. Soweit die Wahrnehmung des Mitmenschen als Mensch betrifft, retardierte der Mensch nicht nur auf das Niveau des Schimpansen, dessen Tötungshemmung gegenüber Angehörigen fremder Gruppen ebenfalls stark eingeschränkt ist, er verlor auch die Tötungshemmung gegenüber dem Sozialpartner.

 

Es gibt nur wenige Beispiele für „spontane“ Massaker. Bei allen anderen sind militätirische bzw. paramilitärische Einheiten beteiligt. Es gehört zum Wesen des Militärs, daß Soldaten nur auf „Befehl“ hin überhaupt tätig werden dürfen.

 

Aus dem „Jäger-Krieger“, der Desmond Morris verschwebte, wurde kein „Abschlachtungs-Technologe“. Den „Jäger-Krieger“ hat es wohl nie gegeben. Dafür aber die Fähigkeit und Bereitschaft der absoluten Mehrheit der Menschen zu bedingungslosen Gehorsam. Mit der Entwicklung des rauchlosen Pulvers am Ende des 19. Jahrhunderts und der gleichzeitigen Erfindung der modernen Sprengstoffe erhielt die Evolution des Genozids auf Gegenseitigkeit einen einmaligen Schub:

 

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind allein zwischen Lissabon und Tokio, also auf der Nordhalbkugel rund 500.000.000 Menschen durch Einwirkung militärischer bzw. paramilitärischer Gewalt unmittelbar zu Tode gekommen; somit sind sie Opfer des unbedingten Gehorsams. 500.000.000 Tote, diese Schätzung dürfte realsitisch sein, müssen hinzugerechnet werden, die an den Spätfolgen dieser Gewalteinwirkung zugrunde gingen. – Somit kommen wir auf einen Jahresdurchschnitt von 10.000.000 Todesopfern „staatlicher Gewalt“. – 10.000.000 pro Jahr, das sind rund 20 Menschen pro Minute. Alle drei Sekunden stirbt also ein Mensch als Folge „staatlicher“ Gewalteinwirkung.

6 Antworten to “Vorsicht Genozid!”

  1. Mr WordPress Says:

    Hallo, das hier ist ein Kommentar.Um Kommentare zu bearbeiten, musst du dich anmelden und zur Übersicht der Beiträge gehen. Dort bekommst du dann die Gelegenheit sie zu verändern oder zu löschen.

  2. Fly, Johnyy Says:

    Arbeiten Sie hier Ihre traurige Jugend auf, Herr Altenhoff?

  3. Gerhard Altenhoff Says:

    Jau! – Sofern Sie mir dieselbe Lebenspanne zubilligen, die Giordano Bruno für sich in Anspruch nahm: „Wen das eine Jahrhundert zum Tode verurteilt, der lebt in allen anderen“.
    Falls Sie mir nicht so gewogen sein sollten:
    Nein! – Ich arbeite die traurige Gegenwart der Menschheit auf! – Die „traurige Jugend“ – die hatte meine Elterngeneration. Wir, zumindest in diesem Winkel der Welt, hatten das Glück, daß uns der „globale Bürgerkrieg“ bislang weitgehend verschonte. Wer allerdings meint, daß uns die „Jugend der Welt“ nur anläßlich der sogenannten „Olympischen Spiele“ interessieren dürfe, der hat sich geschnitten.
    Die Welt ist ein Wesen, bei dem es sich lohnt, genau hinzusehen. Und bei genauem Hinsehen wird man gewahr, daß das von George Orwell in seinem Roman „1984“ postulierte „Newspeech“ (Neusprech) schon zu Orwells Zeiten nackte Tatsache war. Wenn Sie die Welt betrachten, werden Sie unschwer feststellen, daß der „Weltfriede“ tatsächlich nichts anderes ist als der „globale Bürgerkrieg“, der am 4.7.1776 mit der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika seinen Ausgang nahm.

  4. Burner Says:

    Guten Tag Herr Altenhoff,
    ich wollte Ihnen nur zu dem gelungenen Komentar zum Alkohlkonsum von Jugendlichen gratulieren und bin auf diesem weg auf Ihre Seite hier gelangt…
    Auch wenn ich Ihnen hier nicht zu 100% zustimmen kann finde ich den Text „Vorsicht Genozid“ schon sehr gelungen… es sollte mehr aufgekläte und reflektierende Menschen wie Sie geben! Schön das Sie versuchen etwas dafür zu tun!

    mfg Berhnard

  5. TheRealBook Says:

    Zitat :

    Ich bezweifle, dass der Super-Schimpanse Mensch überhaupt je eine Tötungshemmung besaß, statt dessen dürfte ihm ein Tötungsimpetus wesensinhärent sein, und zwar jenseits einer Erwägung der Provenienz des Tötungsobjekts.

    Betrachten wir das Patriarchat und dessen historische Folgen, stellen wir gleichzeitig einen geringen Zeugungswillen fest.
    Die derzeitige Überbevölkerung mag uns nicht draüber hinwegtäuschen, dass Töten höhere Priorität besitzt als Leben zu schaffen.

    Die Erfinder des Monotheismus machten es vor : Zusammengezählt schufen die drei Stifter-Propheten (Moses, Jesus und Mohammed) nicht mehr als drei Kinder. Was ihnen allerdings (nach-)folgte, waren Milliardenheere von Gehorsamen mit hochmotiviertem Vernichtungswillen zugunsten der Gottgefälligkeit.
    Offenbar erlebt gerade die Religion den Menschen als existenzunwürdige Unerträglichkeit.

  6. Ein Gast Says:

    Sehr interessanter und lesenswerter Artikel! Vielen Dank!

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